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In einer Zeitschrift entdeckte ich die recht ansprechende Anzeige eines Westernreiters, der mehrere Pferde zum Verkauf anbot. Ich rief kurzerhand an und war schon sprachlos über seine Antwort, als ich ihm sagte, dass ich nicht Westernreiten könne: „Das macht gar nichts. Wenn´s passt, dann passt´s. Die Reitweise ist dabei völlig egal.“ Und er sollte Recht behalten: während seine Verkaufspferde in aller Ruhe an ihrem Heu nagten, beschrieb er jedes einzelne von ihnen mit seinen Vorzügen, aber auch so manchen Handicap. Einzig und allein zu einer kleinen, roten Stute, die relativ abseits von einer größeren Herde dösend da stand, sagte er nichts. Sie war etwas über eins Fünfzig groß. Genau die richtige Größe für mich laufende ein Meter sechzig. Ihr Fell erstrahlte in einem goldenen Rot, über dem unendlich viele, kleine weiße Haare wie glänzende Silberstreifen lagen. An Kopf und Hals hatte sie mehrere Wirbel. Eine weiße Blume genau in der Mitte ihrer Stirn verlieh ihrem hübschen Gesicht eine faszinierende Weichheit. Sie wirkte fast zerbrechlich. Und hochsensibel. Kleine flinke Ohren nahmen alles um sie herum ebenso aufmerksam war, wie ihre blitzenden großen Knopfaugen. Mähne und Schweif waren für einen Quarter ungewöhnlich dünn, aber ebenso glänzend wie ihr Fell. Mit ihrer schneeweißen Schweifrübe sah sie lustig aus. „Ich würde gerne die kleine Rote da hinten ausprobieren.“ Mit großen Augen schaute ich den Stallbesitzer erwartungsvoll an. „Gut.“, antwortete er, „Dann gehen wir jetzt erst einmal einen Kaffee trinken. Bis die eingefangen ist, das dauert.“

Den Blick meines Mannes vergesse ich nicht: „Du willst doch nicht wirklich dieses Pferd ausprobieren?!“ Ich ignorierte ihn bewusst. Den Blick und damit meinen Mann. Er hatte einen Wallach für mich ausgeguckt, der direkt neben uns stand und seelenruhig an seinem Heu nagte, während ein kleines Mädchen ihm beständig mit dem Koppeltor, auf dem es hin und her schwingend stand, in die Seite donnerte. Thomas gefiel die Ruhe und Gelassenheit des Wallachs. Mir dagegen war er zu ruhig und zu gelassen ...

Der Kaffee schmeckte ausgezeichnet und wir lernten die ganze westernreitende Familie kurz kennen. Frilly stand bereits gesattelt da, als wir in den Stall kamen. Das gefiel mir so gar nicht und ich bat darum, sie abzusatteln. Ich wollte mein potenzielles zukünftiges Pferd gerne selbst putzen und satteln, um zu sehen, wie sie reagierte. Meinem Wunsch wurde entsprochen und Frilly war superbrav. Gesattelt und getrenst gingen wir in einen Roundpen, wo sie mir der Verkäufer vorreiten wollte.

Er blieb eine halbe Runde lang im Sattel, hielt unvermittelt an und ließ sie mit den Worten: „Boah, die hat Pfeffer im Hintern, die ist schon eine ganze Weile nicht mehr geritten worden! Soll sie sich erst einmal austoben.“ wie eine Verrückte umher toben. Frilly raste wild buckelnd durch das Roundpen und mein Thomas wurde immer blasser. „Du willst dich doch nicht wirklich auf die da drauf setzen?“, flüsterte er mir mit aufgerissenen Augen fragend zu. „Doch.“ Frilly gefiel mir. Sehr sogar. Trotz ihres temperamentvollen Auftritts hatte sie etwas unglaublich warmes, vertrauensvoll Beruhigendes an sich. Und es war eine Riesenfreude ihren Luftsprüngen zu zusehen. Ihre pure Lebensfreude und Lebenslust waren fühlbar und ansteckend.

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Ab dem achten Monat konnte ich Frilly nur noch ohne Sattel reiten. Ihr Bauchumfang war enorm. Kein Sattelgurt wollte mehr passen. Sie war herrlich bequem zu reiten. Ich fühlte mich wie auf einem Sofa! Unsere Ausritte wurden zunehmend gemütlicher. Und gegen Ende ihrer Schwangerschaft wollte ich Frilly mein zusätzliches Gewicht nicht mehr zumuten. Also gingen wir miteinander spazieren. Wir hatten eine tolle Zeit! Und dann kam die Nacht, in der Cheyenne das Licht der Welt erblickte. Diese Nacht werde ich nie vergessen!

Ich hatte seit gut einer Woche jede Nacht im Stall verbracht und nichts war passiert. Außer, dass mein Rücken sich langsam, aber sicher wie ein steifes Brett anfühlte. In der Nacht von Cheyennes Geburt fuhr ich erst kurz nach Mitternacht auf den Hof. Eine faszinierende Stille empfing mich. Sofort wusste ich, dass unser Fohlen geboren sein musste. Vorsichtig schlich ich auf leisen Sohlen zu Frilly und leuchtete behutsam mit meiner kleinen Taschenlampe in ihre Box.

Meine Augen füllten sich mit Freudentränen: da lag ein großes, braunes Fohlen mit einer großen Blume auf der Stirn noch mit der Eihaut überzogen im goldgelben Stroh! Ein bildhübsches kleines Mädchen! Frilly stand in der Ecke. Einen guten Meter von ihrem Baby entfernt. Sie war von der Geburt völlig erschöpft und ihr Blick sagte mir: „Los, komm rein. Jetzt bist du dran. Die Eihaut muss weg. Aber ich bin so erschöpft, ich brauche ein paar Minuten für mich.“ Vorsichtig betrat ich die Box, um die Kleine nicht zu erschrecken und setzte mich zu ihr ins Stroh. Ganz langsam begann ich sanft, ihre Nüstern von der Eihaut zu säubern, dann ihren Kopf. Ganz behutsam rieb ich ihren zerbrechlichen Körper mit Stroh ab. Sie brummelte mit einer so herrlich tief freudigen Stimme, dass mir ganz warm ums Herz wurde! „Lieber Gott, ist das schön!“, flüsterte ich, „Bitte, bitte hilf uns! Lass mich das jetzt ja alles richtig machen. Und nimm sie mir nicht gleich wieder weg.“ Ich musste für einen Augenblick lang an meinen Opa denken. Er lag zu der Zeit bereits zum zweiten Mal mit seinen fast siebenundsiebzig Jahren im Krankenhaus. Die Ärzte hatten ihm vor kurzem ein Bein abgenommen und auch das zweite Bein sollte er Ende des Monats verlieren. Für ihn, der sein Leben lang auf den Beinen aktiv war und besonders seine ausgedehnten Waldspaziergänge liebte, war es mehr als eine Horrorvorstellung, jetzt ein Pflegefall zu werden und vor allem, nicht mehr laufen zu können. Er hatte mir bei meinen Besuchen mehrfach klar gemacht, dass er so nicht leben wollte. Ich konnte ihn verstehen. Als ich Chey in meinen Armen hielt und den lieben Gott anflehte, sie mir nicht gleich wieder weg zu nehmen, wusste ich im selben Augenblick, dass mein Opa nicht mehr lange leben würde. Ich wusste es einfach. Warum auch immer.

Mein Blick fiel auf die Nabelschnur meines neu geborenen Pferdes. Panik! Die Nabelschnur hatte sich um die Hinterbeine gewickelt, so dass die Kleine kaum eine Chance zum Aufstehen hatte und war bislang immer noch nicht gerissen. Verzweifelt entsetzt schaute ich zu Frilly, die ganz langsam näher gekommen war und die Kleine abzulecken begann. Meine Magengrube füllte sich mit einer geballten Faust und bevor mir vor lauter Panik völlig schlecht wurde, rannte ich zum Telefon. Handys gab es damals noch nicht. Ich rief meinen Mann an, erklärte ihm hysterisch, was los war und bat ihn, sofort zu kommen. „Geht nicht.“, sagte er. Sein Ton war merkwürdig nüchtern. „Ich komme nicht von der Toilette. Ich habe Durchfall. Ruf den Tierarzt an.“ Das durfte nicht wahr sein. Durchfall! Ausgerechnet jetzt! Konnte er sich keinen anderen Zeitpunkt dafür aussuchen? Ich kam mir völlig verlassen vor. Durchfall. Hektisch wählte ich die Nummer meines Tierarztes, der sich auch recht schnell am anderen Ende der Leitung meldete. Ich schilderte meine Sorgen und er versprach sofort zu kommen.

Tränen der Angst liefen mir über die Wangen als ich in den Stall zurück eilte. Ich krabbelte in die Box zu Frilly und der Kleinen, die noch immer verzweifelt vergeblich versuchte aufzustehen. Langsam ließen ihre Kräfte nach. Und meine Panik wuchs umso mehr. Endlich! Ich hörte Autos und Stimmen. Ich stand auf. Und mit mir die Kleine. Schlagartig stand sie auf ihren wackeligen Beinchen und die Nabelschnur war gerissen. Das Licht ging an und eine Menschenmenge drängte sich in den Stall: der Stallbesitzer, seine Frau, mein Tierarzt mit seiner Lebensgefährtin und mein Mann. „Na, ist doch alles bestens! Was für ein hübsches Fohlen!“ Mein Tierarzt blickte begeistert auf die kleine Maus. Prima, dachte ich. Noch vor einer Minute hatte ich Todesängste wegen der Kleinen und jetzt war alles in Ordnung. Erleichtert atmete ich auf.

Der Tierarzt kontrollierte Frillys Nachgeburt. Alles bestens. Dann desinfizierte er den Nabel der kleinen Maus. Jetzt galt es, sie zum Trinken zu bewegen. Und was passierte? Anstatt bei Frilly die leckere Milch zu suchen, nuggelte sie an meinen Fingern. Wo auch immer ich mich hin bewegte, lief sie mir nach. Frilly war völlig uninteressant. Auf eine Art vollkommen logisch, denn ich hatte vor Frilly durch das Streicheln und mit Stroh Abreiben intensiven Hautkontakt mit der kleinen Maus und sie verband meinen Geruch mit angenehmen Empfindungen. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie immer wieder in Richtung Frillys Euter zu schieben. Solange, bis sie endlich die Milchbar gefunden hatte. Ihr Schmatzen brachte alle unsere Augen zum Leuchten. „Wie soll die Kleine denn heißen?“, fragte der Tierarzt. „Cheyenne.“, antwortete mein Mann. „Peppys Cheyenne.“

Peppys Cheyenne wurde am 02. April geboren, mein Opa starb im gleichen Monat, am 27.

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Warum ausgerechnet Cheyenne? Warum musste sie mit gerade mal dreizehn Jahren so massiv an Arthrose erkranken? Warum war dieses Leben manchmal so ungerecht? Stille schmerzliche Tränen rollten mir über die Wangen. Ich konnte nicht reden. Kein Wort. Mein Hals war wie zugeschnürt. Thomas legte mir zärtlich beruhigend seine Hand auf meinen Arm. „Ist schon gut. Weine ruhig, ich weiß, wie weh dir das tut.“ Seine Worte balsamierten meinen Schmerz.

Im Gegensatz zu sonst war ich heute ganz still im Auto. Kein „Achtung! Die da vorne bremsen!“, kam über meine Lippen. Und auch kein Kommentar von meinem Mann: „Danke Schatz. Wenn du das jetzt nicht gesagt hättest, hätte ich die grell leuchtenden Bremslichter der vielen Autos glatt übersehen.“ Kein „Achtung! Die Ampel ist rot!“, sprudelte aus mir. Kein „Danke Schatz, die hätte ich jetzt bestimmt übersehen“ kam als Antwort. Ich trat nicht einmal auf meine imaginäre Beifahrerbremse, wenn Thomas für mein Empfinden viel zu dicht auf das Auto unseres Vordermanns aufgefahren war. „Zu dicht auffahren“ begann bei mir bei gut einer halben Autolänge Abstand. Wurde diese Distanz erreicht, streckte sich mein rechter Fuß unwillkürlich blitzschnell nach vorne unten, um auf die Bremse zu treten. Auf die imaginäre Bremse. Gleichzeitig entfloh mir stets ein „Achtung! Bremsen!“ und meine rechte Hand krallte sich in die Beifahrerarmlehne, während sich meine Linke seitlich am Beifahrersitz verkeilte.

Nur heute war mir alles egal. Ich hatte das Gefühl, nicht wirklich da zu sein. Ich kam mir vor wie in einem Film. Einem schlechten Film. Einem schlechten Film, in dem ich die Hauptrolle spielte und dennoch nicht beteiligt war. Ich hätte diesen Film am liebsten sofort ausgeschaltet. Aber das ging nicht. Schweigen. Unser Auto war erfüllt von Schweigen. Schmerzlichem Schweigen. Thomas und ich, wir dachten beide unaufhörlich an Chey.

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